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Berliner Hochtourenweg, 6.-9. Juli 2024

Hochtourenvariante zum vielbegangenen Berliner-Höhenweg am Zillertaler Alpenhauptkamm

06.07.2024

Tourenleiter: Raoul
Teilnehmer: 5 (Werner, Wojciech, Säm, Michi & Andi)
Bericht & Fotos: Andi

Es muss wohl am Abend auf der Olperer Hütte im Juni 2023 gewesen sein, als unsere Blicke nach Süden über den Schlegeisspeicher auf die gegenüberliegenden Berge an der Grenze zu Südtirol fielen und irgendjemand meinte, dass der Große Möseler da drüber ja auch ganz gut aussähe. Da dachte sich der Raoul wahrscheinlich „Gut, dann schauen wir uns das nächstes Jahr mal an.“
„Rund um die Berliner Hütte werden wir anspruchsvolle Hochtouren angehen“ – so lautete zumindest die daraus entstehende Tourenausschreibung im Bergfreund 2024. In der ersten Mail von Raoul wurden daraus dann in Rohfassung amtliche 64km und 6.700 Höhenmeter, die aus Termingründen in zweieinhalb Tagen abgespult werden sollten. Inkl. An- und Abreise. Der Terminblocker in meinem Kalender wurde umgehend geändert von „Hochtourenwochenende 🏔️😎“ zu „Zillertaler Grenzkammzerlegung ☠️☠️☠️“.

Der erste Erfolg der Tour bestand dann auch folgerichtig nicht in der Besteigung eines Gipfels, sondern dem gemeinsamen Entschluss vorab, das ganze auf vier Tage auszuweiten und so etwas zu entschärfen.

Der Plan als solcher sah vor:

  • Tag 1 – Anreise und Aufstieg zum Furtschaglhaus (2.295m) und Großer Möseler (3.479m)
  • Tag 2 – Über’s Schönbichler Horn (3.133m) zur Berliner Hütte (2.042m) und noch zur Berliner Spitze (3.254m)
  • Tag 3 – Besteigung der Zsygmondyspitze (3.062m) und über die Mörchenscharte (2.870m) zur Greizer Hütte (2.227m)
  • Tag 4 – Besteigung Großer Löffler (3.387m), Abstieg und Abreise

Tag 1 – Der große Bröseler

9 h all-in | 15,5 km | 1.740/1.250 Hm | PD+

„Ich hol ich um 4 Uhr ab, halb fünf Abfahrt beim Raoul“. Irgendwie stehen meine Hobbys meiner Liebe zum Ausschlafen im Weg. Das nur so am Rande.

Nichtsdestotrotz machten wir uns pünktlich um halb fünf mit Raoul auf den Weg Richtung Schlegeisspeicher/Zillertal und trafen uns vor Ort mit den ebenfalls hochmotivierten restlichen Bergsteigern Wojciech, Säm & Michi. Der Aufstieg zum Furtschaglhaus verläuft zuerst flach am Ufer des Schlegeisspeichers entlang, um dann an dessen Südzipfel vorbei unterhalb des Furtschaglkopfes aufzusteilen und die weiteren 360 Höhenmeter zum Furtschaglhaus in etwas über 1.500 Gehmetern abspult. Gegen 9 Uhr an der Hütte angekommen und mit fränkischer Herzlichkeit begrüßt, deponierten wir das wenige entbehrliche Gepäck, das unser Rucksack noch hergab, und stürmten nach minimalistischer Pause direkt weiter in Richtung Großer Möseler.

Zuerst auf markiertem Steig, dann weglos in Blockgelände und über Schneefelder erreichten wir zügig unseren Anseilpunkt auf etwa 2.800 m Höhe. Die anschließenden Höhenmeter auf dem Gletscher sind schnell und technisch einfach abgespult, bevor es mit erreichen der 3000-Meter-Marke wieder seilfrei über eine Felsflanke in 1er/2er Blockgelände ohne große Umwege gerade nach oben geht. Ich bin mir unsicher, ob der Berg schon im Aufstieg umbenannt wurde oder erst im Abstieg den Beinamen „Großer Bröseler“ bekam, auf jeden Fall merkt man auch hier, dass die Berge nicht mehr ganz so fest sind wie noch vor einigen Jahren.

Sei’s drum, Spaß hat’s ja trotzdem gemacht. Und nachdem man auf ca. 3.250 m die steile Felsflanke überwunden hat, führen die letzten 200 Höhenmeter wieder angeseilt über mäßig steiles Gelände und ein paar Kraxelmeter ohne große Schwierigkeiten bis auf unseren ersten 3.000er dieses Wochenenendes. Wir liegen uns freudig in den Armen, lassen den Blick schweifen und sehen – nichts. Seit dem Ausstieg aus dem Fels stapfen wir nämlich durch die Wolken.

Dementsprechend kurz fällt auch die Gipfelrast aus, und wir machen uns bald auf den uns jetzt schon bekannten Weg zurück zum Furtschaglhaus – wo sich die Laune seit dem Morgengrauen drastisch gebessert hat und wir uns mit Kuchen und Bergsteigergetränk den Wetterbericht des nächsten Tages schönreden.

Tag 2 – Die Berliner Hütte

5 h all-in | 9,5 km | 940/1.190 Hm | T3

Der eigentliche Plan sah ja vor, mit frühem Start die entsprechende Etappe des Berliner Höhenwegs auf die gleichnamige Hütte zu begehen, hier wieder Gepäck zu deponieren und direkt noch einen Ausflug auf die Berliner Spitze anzuhängen. Leider machte uns der Wetterbericht einen Strich durch die Rechnung bzw. unschöne Regenvorhersagen für den Tag.

Also wurde doch „ausgeschlafen“ (zumindest im Vergleich zum Vortag) und eine Regenpause abgewartet, um sich dann halbwegs trockenen Fußes in Bewegung zu setzen. Die Höhenweg-Begeher wählten allesamt die sichere Hatscher-Umgehung durch das Tal, wir erfreuten uns ob unseres Abenteuersinnes und der Abwesenheit von Niederschlägen an einer einsamen, aber recht windigen Begehung des Schönbichler Horns, welches wir nach gut zwei Stunden und auf den letzten Metern seilversichert unschwer erreichten.

Auch hier war uns wolkenbedingt leider keine Aussicht vergönnt, und der böige Wind am Aufstieg & Gipfel trieb uns recht zielstrebig in die windabgewandte Ostflanke, in der es etwa 100hm seilversichert und steil bergab geht, bevor sich das Gelände langsam entspannt und man am Ostgrat entlang wieder in Gehgelände gelangt.

Nachdem wir nun die wetter- und bergsteigerische Schlüsselstelle des Tages hinter uns gelassen hatten, beschloss der Regen seine vollmundige Ankündigung in die Tat umzusetzen und begann seinerseits sein Tagwerk – zu beginn allerdings noch recht gemächlich, so dass wir den dreistündigen Abstieg zur Berliner Hütte größtenteils in Nieselregen verbrachten, der sich erst auf den letzten Minuten zur Hütte in einen stattlichen Regenschauer wandelte. An der Stelle sei übrigens angemerkt, dass der Berliner Höhenweg ein paar Bachquerungen beinhaltet, die bei viel Wasser durchaus mutige Sprünge erfordern.

Da der Wetterbericht wie erwartet für den Nachmittag keinerlei Verbesserung der Lage erwarten lies, überließen wir uns der herrlichen Stattlichkeit der Berliner Hütte, die die meisten von uns zum ersten mal besuchten. Wer noch nicht hier war sollte den Besuch unbedingt einmal einplanen, gerade auch weil das junge Hüttenteam sowohl in Punkto Gastfreundlichkeit als auch kulinarisch unsere Laune im Laufe des Tages in Spähren hob, die durchaus mit der Höhe der verpassten Berliner Spitze mithalten konnten.

Tag 3 – Schwarzenstein und Hochtourensuppe

9 h all-in | 15 km | 1.340/1.180 Hm | PD

Ursprünglich war für heute die Besteigung der Zsigmondyspitze geplant, dem „(Mini-) Matterhorn des Zillertals“, um danach weiter dem Berliner Höhenweg über die Mörchenscharte zur Greizer Hütte zu folgen. Da der durchgängige Regen des Vortags jedoch äußerst nassen Fels vermuten lies, hatten wir schon am Vorabend beschlossen, stattdessen nach Südosten in Richtung Grenzkamm zu gehen, den Schwarzenstein zu erklettern und von dort über’s Floitenkees direkt zur Hütte abzusteigen.

Die ersten 3 km quert der Weg sanft ansteigend unter den Südflanken von Ochsner und Rotkopf, bis man den Zemmbach beherzt überquert und sich der Pfad, nun an der Südwestseite von kleinem und großem Mörchner, aufsteilt und uns schnell auf die ersten Schneefelder führt, die dieses Jahr noch weit herab reichen. Steinmannderl und Markierungen auf vielen Felsinseln weisen uns zuverlässig bergauf, ein Felsriegel auf knapp 2.700m Höhe wird per Leiter unschwer überwunden. 200 Meter weiter oben wird wieder angeseilt, und wir begeben uns erneut in immer dichteren Wolken und mäßig steil zum Schwarzensteinsattel und ab dort verblassten Spuren und unseren GPS-Tracks folgend über flaches Terrain und einen breiten Rücken in Richtung Gipfelaufbau. Wären nicht die rot-braunen Spuren der Saharawinde des Wintern im Schnee sichtbar, wir würden durch eine stille, weiße Leinwand gehen.

Nach einer gefühlten Ewigkeit kündigen dann doch Felskonturen im Nebel den sich nähernden Gipfel an, und einige Minuten später ist das Gipfelkreuz auf 3.369 m erreicht. Sicht: null. Aber das kennen wir ja schon.

Ab hier trennen sich leider unsere Wege – Säm und Wojciech müssen wieder zurück nach München und steigen daher in Zweierseilschaft zurück Richtung Berliner Hütte (smarterweise hatten wir wegen der Zsigmondyspitze sowieso zwei Seile dabei), während Raoul, Werner, Michi und ich die „Überschreitung“ in Angriff nehmen und uns durch weiter dichte Wolkensuppe unseren Weg ins Tal suchen.

Da der Schwarzenstein ostseitig in der Regel von der Schwarzensteinhütte auf italienischer Seite bestiegen wird und unsere nach Norden gerichtete Abstiegsroute dementsprechend wenig bis kaum begangen ist, gestaltete sich die folgende Wegfindung aufgrund der Abwesenheit von Markierungen, Spuren und Sicht phasenweise schwierig. Den grundsätzlichen Routenverlauf im Kopf und zumindest grob in AV-Karten verzeichnet, steigen wir den Gipfelaufbau nach N-O ab, folgen dem Firnrücken am sog. Felsköpfl vorbei und verlassen ab hier die „italienische“ Aufstiegsroute.

Schon bald tasten wir uns vorsichtig durch Blockgelände und kurze, aber steile Schneefelder, deren Auslaufgelände mangels Sicht teilweise schwer einzuschätzen ist. Die Stimmung ist phasenweise etwas angespannt, aber grundsätzlich ruhig und zuversichtlich, und so arbeiten wir uns konzentriert den Berg hinab, bis wir auf etwa 3.000 m endlich wieder auf flacheres Gletschergelände gelangen.

Die etwa 250 Höhenmeter ab Felsköpfl bewältigen wir gut zwei Stunden, die uns eindrucksvoll zeigen, wie grundsätzlich „einfaches“ Gelände im Hochgebirge bei fehlender Sicht und Orientierungsmöglichkeit schnell an Ernsthaftigkeit gewinnen kann. Danke an dieser Stelle nochmal explizit an Raoul für seine Ruhe und Besonnenheit.

Wir verlassen die Felsen und alsbald auch die Wolkensuppe, verlieren in nun einfachem Gelände zügig an Höhe, queren genauso zügig (Steinschlag!) auf etwa 2.700 m unter den beiden Floitenspitzen den Talschluss auf dessen Ostseite und erreichen zeitgleich mit den ersten Sonnenstrahlen die Greizer Hütte. Es folgen Kuchen und Bergsteigergetränke, das sich stetig bessernde Wetter erlaubt sogar, das Abendessen nach draussen zu verlegen, und wir alle freuen uns auf den nächsten, letzten Tag, und am meisten auf: Fernsicht.

Tag 4 – Großer Löffler

10 h all-in | 16 km | 1.220/2.030 Hm | PD

B l a u e r   H i m m e l ! Endlich. Wir starten um 6.30 Uhr hoch motiviert zu unserem großen Löffler-Finale und stehen diesmal schon nach anderthalb Stunden fertig angeseilt auf 2.700 m. Heute heißt es schnell sein – vor uns türmt sich eine wahre Gletscherwand auf, gute 500 Höhenmeter ragt das Floitenkees mit durchgehend über 30, teils fast 40 Grad hinauf. Dank des üppigen Schneefalls in den Hochlagen können wir uns gnädigerweise nicht nur auf einer stabilen Auflage aus bestem, festen Stapfschnee nach oben arbeiten, auch das Spaltenwirrwarr bleibt uns erspart, das den technisch einfachen Aufstieg bei Ausaperung schnell anspruchsvoll macht.

So ackern wir uns in nicht enden wollendem Zickzack immer Richtung Südosten die imposante Gletscherflanke hinauf, gewinnen schnell an Höhe und stoßen schließlich auf etwa 3.200 m Höhe auf die Felsen der Tribbachspitze, unter welchen wir noch ein paar Minuten nach Norden queren, bis wir einen geeigneten Punkt finden, in den Fels einzusteigen.

Zuerst überwinden wir einen kurzen Felsaufschwung und werden endlich von den ersten, über den Grat wandernden Sonnenstrahlen begrüßt. Danach geht es in steilen Firnfeldern auf Händen und Füßen (bzw. Steigeisen und Pickeln) 100 Höhenmeter bis auf ein kleines Plateau, das uns schon einen Vorgeschmack auf’s Gipfelpanorama liefert. Kurz durchschnaufen und noch einen letzten Steilaufschwung in Schnee und Fels überwinden – da dieser komplett in der Sonne steht und der Schnee schnell an Qualität einbüßt, entschließen wir uns im Fels zu bleiben und kraxeln nahe an der steil abfallenden Ostwand nach oben, jedoch nie wirklich ausgesetzt.

Der Gipfel selbst entpuppt sich als ziemlich breiter, gut gangbarer Schutthaufen mit feiner, windgeschützter Sitzecke direkt am Gipfelkreuz. Die Sicht ist etwas diesig, ab und an ziehen Wolken durch, aber alles in allem ist sie: phantastisch. Wir haben schlagartig alle Schlechtwettererinnerungen vergessen und sind uns nicht einig, was nun die beste Blickrichtung ist – im Norden das Zillertal, im Osten Dreiherrenspitze und die Tauern mit Venediger und Glockner, im Süden, weit unter uns, die Grünen Berge des Arntals und im Westen der Blick zurück auf den Schwarzenstein und die Errungenschaften der vergangenen vier Tage.

Von hier oben haben wir auch beste Einblicke in unsere Abstiegsroute des Vortags, und was sich im Nebel als wahrliches Abenteuer präsentierte, verliert ohne die Furcht vor dem Unbekannten sehr viel seines gestrigen Schreckens.

Wir beschließen, das gute Wetter zu nutzen und noch zur Tribbachspitze hinüberzugehen (Nächster 3.000er, check.), lassen auch hier nochmal den Blick schweifen und machen uns entlang des Felsgrates in leichter Kletterei weiter gen Gletscher.

Anseilen, Abfahrt – während wir uns die ersten 200 Höhenmeter noch in vom Aufstieg gewohntem Zickzack nach unten bewegen, nehmen wir irgendwann die sportive Abstiegsvariante und überwinden so den kompletten Gletscher in etwas über 20 Minuten in mehr oder weniger direkter Falllinie. Wir blicken zurück auf den wahrlich großen Großen Löffler, packen Seil, Gurt und Metall in die Rucksäcke und schreiten zur Greizer Hütte, die uns noch ein deftiges Mittagessen beschert, bevor wir und an den 12 km langen Talhatscher machen. Oder zumindest einen Teil davon – da es bereits Nachmittag ist, wird uns auf halbem Weg ein Ruftaxi an der Steinbachalm abholen.

Wir verabschieden uns von der sehr sympathischen Hüttencrew und bewältigen schnell die steilen 350 Höhenmeter von der Hütte nach unten in den Floitengrund. Die dort auf uns lauernden Temperaturen spielen in ihrer Gradzahl in ähnlichen Regionen wie die Steilheit der zurückliegenden Gletscherhänge, und wir schicken uns an, auf breitem Pfad und bald dem Forstweg der Materialseilbahn die letzten 6 Kilometer unserer Reise abzuspulen.

Der Berliner Hochtourenweg (Arbeitstitel!) ist ein toller Weg. Die immervollen Hütten entlang des Berliner Höhenwegs jeden Morgen zu verlassen und alsbald in Stille und Abgeschiedenheit einsame Gipfel zu besteigen war eine tolle Erfahrung, mit all ihren Strapazen und Anforderungen. Ich bin nur froh, dass wir vom 2,5-Tage-Plan abgewichen sind, und in mir wächst ein Gedanke: Je mehr man sich Zeit lässt, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, einen schönen Tag zu erwischen.